Dass er ins Lazarett der Ritterburg verlegt wurde, hatte Knut an diesem Tag offensichtlich nicht gemerkt. Zu tief war sein Schlaf durch die Wirkung des Mohnsafts. Und auch wenn er seine Augen zwischendurch mal öffnete und wirre Worte vor sich her stammelte, so mischte sich die Wirklichkeit all zu sehr in seine Träume während jenen Tagen. Es bildeten sich keinerlei klaren Gedanken in seinem Kopf. An ihn gerichtete Worte blieben nur kurz oder sie prallten ab. Sein Wahn hatte die Oberhand gewonnen!
All die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monaten waren zu viel für einen einfachen Arbeiter und sein übermäßiger Alkoholkonsum war dabei ebenso ausschlaggebend, wie
das Trauma, welches er in den Minen Winterbergs erfahren musste.
Unzählige Wochenläufe war er im Dunklen der Berge gefangen, nachdem ein von ihm neu erschlossener Schacht über ihm eingebrochen war. Nur mit Hilfe von Tauwasser, Insekten, Pilzen und einer imaginären Freundin an seiner Seite gelang ihm das Überleben. Die Hoffnung auf Rettung entfernte sich von Tag zu Tag mehr aus dem Bereich des Möglichen. Sein Mut, seine Kraft und sein Überlebenswillen schwand mit jeder weiteren Nacht in seinem lebensfeindlichen Verließ. Die Dunkelheit, die Kälte, Müdigkeit, das monotone Rauschen der Höhlenwinde, das ständige Getropfte des Tauwassers, der Hunger, die Einsamkeit, all dies höhlte seinen Verstand nach und nach immer mehr aus.
Die Lücke in seinem Kopf wurde, nach einer Zeit, von einer weiblichen, lieblich klingenden Stimme ausgefüllt. Sie legte sich betörend um seine Gedanken, wie eine warme Bettdecke und gab ihm den notwendigen Halt, um weiter nach einem Ausweg zu finden.
Doch sie beantwortete auch Fragen und schob Zweifel in ihm weg, die mit der Zeit aufkamen. Vermisst ihn denn niemand? Wer weiß, dass er hier verschüttet ist? Wann kommt er raus? Wird er überleben? All diese Fragen meinte er zu Beginn noch einfacher beantworten zu können, irgendwann wusste er es nicht mehr und wurde verrückt vor Angst, doch die sanfte Stimme beantwortete ihm die Fragen nach mehreren Monden hartnäckig mit fälschlichen Behauptungen. Doch dies war seinem menschlichen Gehirn egal. Es brauchte einfache Antworten, um zufriedengestellt zu werden. Nicht die richtigen, oder, unter normalen Umständen, logischen Antworten.
So schützte ihn die Stimme in seinem Kopf und motivierte ihn sich aufzuraffen, um zu überleben, doch irgendwann gab es nur noch sie. Sie und ihn. Sie war nun seine Freundin und seine alten Freunde wurden nach und nach zu Verrätern, die das Ganze zu verantworten hatten. Zu Verrätern, die ihn hier unten zum Sterben zurückließen. Natürlich stimmte das nicht, aber die Stimme sagte es ihm und sie war letztendlich das Einzige, was er noch hörte und glaubte.
Die Wunde an seinem Kopf hatte er zu keiner Zeit bemerkt. Wohl ein weiterer Schutzmechanismus seines Körpers. Hätte er sie bemerkt, so wäre er nur noch mehr in Panik verfallen und wäre nur noch näher daran gewesen sich da unten aufzugeben. Also wusste er nicht, dass ein herabfallender Stein ihm die Schädeldecke eingedrückt hatte. Während der langen Zeit im inneren der Erde ist die Wunde äußerlich geheilt, doch innerlich drückte ein Handteller großer Bluterguss auf sein Gehirn. Manche wären daran gestorben. Dem Tod war er durchaus nahe. Doch er hat dafür seinen Verstand verloren und wusste, auch nachdem er es nach langer Zeit herausgeschafft hatte, nicht mehr was wahr oder falsch ist. Seine Freundin und er hatten sich seine eigene Realität aufgebaut, die mal weit, mal sehr weit von der Wirklichkeit entfernt war. Da unten half ihm das zu überleben. Doch "da unten" war er nun nicht mehr.
Tief im Schlaf versunken und seinem Wahn verfallen bemerkte er an diesem Tag dann auch nichts von der Öffnung seines Kopfes und das Ablassen des Blutes aus seinem Schädel, um den Druck auf sein Gehirn zu verringern.
Auch davon, dass ein Blutgerinnsel sich gelöst hatte und sich auf dem Weg zu seinem Herz befand, davon hatte er keinerlei Ahnung oder bewusste Erinnerungen.
Und warum er nach Nordhain ins Heilerhaus verlegt wurde, auch das wusste er nicht mehr. Die Heiler haben ihn vor dem Eingriff in einen tiefen, magischen Schlaf gelegt, damit er von all den Schmerzen nichts mitbekam und auch wenn er dazwischen wach wurde und wohl Worte sprach, so war sein Zustand so kurz nach der Operation weit davon entfernt sich der Normalität zu nähren. Dafür war die Entlastung seines Gehirns einfach noch zu frisch. Immer wieder wurde ihm ein Schlaftrunk gereicht, damit sein Zustand stabil bleibt, er keine Schmerzen hat und sich in Ruhe von der Operation erholen kann. Dementsprechend war sein Verstand schläfrig und er nahm auch im wachen Zustand die Realität um ihn herum nur minder wahr.
Neben den körperlichen Einflüssen auf sein Gehirn, die ihm der Schlag auf seinen Kopf verpasst hatte, blieben noch seine seelischen Leiden. Eine solch lange Zeit in finsterer Einsamkeit ließ seine Spuren und eine lange Zeit lang war es seine Freundin im Kopf, die ihm sagte was richtig und was falsch war, wer gut und wer böse ist – und sie erlaubte zumeist nur einen Freund in Knuts Leben. Und das war sie selbst.
So hatte er da unten überlebt und es war gut sie da unten bei sich zu haben. Doch nun sind es genau diese „Verräter“, die ihn versorgen, die sich um ihn kümmern, und die mehr als ein Mal sein Leben gerettet haben.
Doch von all dem wusste er nichts. Zumindest noch nicht. Und noch hatte er es nicht überstanden. Seine Schädeldecke war noch immer geöffnet und nur durch einen Hautlappen geschützt.