Das Blut spricht
Es war still geworden in Fjellgat.
Zu still.
Die Bäume standen schwarz im Nebel, und selbst die Krähen, die sonst über den Dächern kreisten, waren verstummt. Kein Kriegsgesang hallte von den Hängen, kein Hornruf brach das Schweigen. Die Schmieden lagen kalt, die Feuerstellen erloschen. Nur das Klirren des Windes über den Felsen sprach noch zu denen, die Ohren hatten.
Der Jothar, Herz des Stammes, war krank und geschwächt. Wie eine alte Eiche, deren Stamm hohl geworden war, stand er noch – doch die Kraft, die ihn trug, war gebrochen. Die Krieger streiften ziellos durch die Wälder, jagten allein oder saßen schweigend an ihren Hütten. Niemand zeigte Stärke nach außen, niemand ließ die Feinde spüren, dass die Trymm’Tack noch atmeten.
Haldron sah all dies und spürte den Zweifel wie kaltes Eisen in seiner Brust.
War er ein Führer, oder nur ein alter Mann, der den Worten der Ahnen nachhing?
Hatten die Ahnen wirklich zu ihm gesprochen, oder war er selbst es, der ihre Stimme formte, weil er sie so sehr hören wollte?
Seine Hände, die sonst fester als Stein um den Stab griffen, zitterten. Sein Atem war schwer, wie der eines Mannes, der zu viele Winter getragen hatte. Er fühlte das Gewicht des Stammes auf seinen Schultern, und zum ersten Mal fragte er sich, ob er daran zerbrechen würde.
Doch Zweifel ist für die Trymm’Tack kein Ende – er ist Feuer, das brennt, bis nur noch Härte übrig bleibt.
Haldron legte den Wolfspelz fester um seine Schultern, spürte das alte Fell an seiner Haut, roch den kalten Schnee, der sich in den Fasern gesammelt hatte. Seine Kriegsbemalung – die roten Streifen auf Brust und Armen – glühte wie Wunden, die niemals verheilten. Er richtete den Blick auf den alten Ritualplatz, der in der Tiefe der Erde verborgen lag.
Die Höhle empfing ihn wie ein Schlund.
Auf der einen Seite brodelte die Lava, rot wie das Herz der Erde, flammend und unruhig. Auf der anderen Seite ruhte das Wasser, still und kalt, doch mit Tiefe, die mehr verbarg, als sie zeigte. Knochen standen in Reihen wie Wächter, Schädel grinsten aus Nischen im Fels. Und im Zentrum: der steinerne Kreis, uralt, gezeichnet von Ritzen, in denen Blut geronnen und wieder getrocknet war.
Hier hatten die Alten ihre Opfer gebracht. Hier hatten die Stimmen der Ahnen durch Rauch, durch Flamme und durch Opfer gesprochen. Hier entschied sich, ob einer stark genug war, ihren Willen zu tragen.
Haldron trat in den Kreis.
Barfuß, Schritt für Schritt, bis der Boden kalt und hart unter seinen Füßen vibrierte, als würde die Erde selbst ihren Atem anhalten. Mit der Spitze seines Stabes ritzte er Symbole in den Stein – Kreise, Linien, Zeichen der Härte. Ein Kreis, durchbrochen von drei Linien: Leben, Blut, Tod.
„Ahn!“ Seine Stimme brach das Schweigen, ein Donner, der von den Felswänden zurückschlug. „Jeg hab den Stamm gfyhrt. Jeg hat Opfr bracht. Doch mejn Hände sjnd leer, un mejn Ruf verhallt jm Wjnd. Der Jothar jst gschwächt, de Krieger verstreut, Fjellgat verstummt. Habt a jeg verlassn?“
Der Fels schwieg. Das Wasser kräuselte sich kaum, die Lava brodelte leise.
Haldron zog ein Messer aus Knochen, alt und scharf. Er hob es an seinen Unterarm, sah auf die Adern, die darunter pulsierten. Dann schnitt er.
Das Blut rann warm und dunkel herab, tropfte auf den Stein, füllte die eingeritzten Linien.
„Wenn a jeg neyt hört – so hört jeg Blut! Wenn eur Stjmmen fern sjnd – so sprecht durch mej Härte!“
Das Feuer flackerte, warf Schatten an die Wände, die sich wie Gestalten bewegten. Das Wasser kräuselte sich stärker, als würde ein unsichtbarer Hauch darüber wehen. Die Knochen knarrten, als ob sie atmeten.
Und dann, in der Tiefe des Donners, hörte er sie.
Keine sanften Worte.
Keine Lieder.
Nur der Ruf der Ahnen:
„Prüfung. Härte. Opfer.“
Haldron sank auf die Knie. Sein Blut tropfte weiter, doch er lächelte. Denn die Ahnen hatten geantwortet – nicht mit Trost, nicht mit Rat, sondern mit dem einzigen Weg, den sie anerkannten.
Haldron wusste er soll nicht mehr bitten, nicht mehr zweifeln.
Er muss prüfen.
Sich selbst. Jeden, der sich Barbar nannte. Jeden, der die Linie der Trymm’Tack im Blut trug.
Nicht Worte, nicht Schwüre würden über Stärke entscheiden. Nur Blut. Nur Härte. Nur Opfer.
Und so erhob sich Haldron, der Forsjaman, der Zornbringer. Sein Blick schärfer als das Messer in seiner Hand.
Der Weg war klar.
Die Ahnen hatten gesprochen – und er würde ihr Richter sein.